Seit 50 Jahren herrscht in Kolumbien Bürgerkrieg. An der Situation der rund sechs Millionen Binnenflüchtlinge, die vor den Soldaten, der Farc und den Paramilitärs fliehen mussten, wird der Friedensprozess kaum etwas ändern. Ein Besuch in Guapi, wo viele Vertriebene gestrandet sind.
Reportage in der jungle-world und eine litarische Version bei Kolumbien-Nachrichten
Dort, wo sie lebten kannten sie keinen Staat, kannten sie keine Grundrechte, keine Grundversorgung. Der Staat kam erst mit den Soldaten. Und dann kamen die Flugzeuge, dann die Bomben. „Wir brachen in Panik aus, es war das absolute Chaos“, erzählt Alvaro, das Morgenlicht fällt hinter ihm durch die Ritzen des Bretterverschlages, in dem er mit seiner Familie Unterschlupf gefunden hat. Er trägt einen kurzrasierten Schnauzer, seine Wimpernpartie ist an den Seiten leicht nach unten gedrückt, gibt seinem Blick Treue. Alvaro hat ein gutes Gesicht. Die Unterlippe des sechsfachen Familienvaters zittert leicht, während er spricht:
„Wer kann mitten im Krieg schlafen, neben Gefechten, Schüssen, unter Helikoptern, Flugzeugen. Die Luftangriffe gingen die ganze Nacht und am nächsten Morgen direkt weiter. Noch einmal heftiger, noch einmal näher an unserem Dorf. Wir hatten wahnsinnige Angst.“ Er sagt wieder: Chaos. Und: Panik. Panik sagt er dreimal.
Er und alle andere 500 Bewohner von Alto-Guapi sind direkt am nächsten Tag geflohen. Am 21. Mai 2015 flog das kolumbianische Militär dort die heftigsten Luftangriffe in der jüngeren Geschichte des Bürgerkrieges, laut offiziellen Angaben starben dabei 28 FARC-Kämpfer, einige Menschenrechtsorganisationen sprechen von mindestens 80 Toten und zivilen Opfern. Die Wahrheit bleibt verborgen, keiner redet offen, die Menschen haben Angst. Angst vor dem Militär, Angst vor der FARC, Angst vor den Paramilitärs. Überall sind Infiltrierte, überall hört jeder mit und jedes falsche Wort kann den Tod bedeuten. In Kolumbien gibt es aufgrund des seit mehr als 50 Jahren andauernden Bürgerkrieges über 6 Millionen interne Flüchtlinge. Alleine in Syrien ist die Zahl höher und doch ist die Tragödie weltweit so gut wie nicht bekannt. Laut Zahlen der UARIV (Unidad Para la Atención y Reparación Integral a las Víctimas) stammen knapp die Hälfte der Flüchtlinge aus der Pazifikregion. Die FARC und paramilitärische Gruppierungen streiten sich dort um die territoriale Kontrolle der wichtigen Kokainrouten, über 50% der vorwiegend afro-kolumbianischen Bevölkerung leben laut UN-Angaben in extremer Armut. Wie im Dorf von Alvaro ist es in vielen Orten der Peripherie: den Staat kennen die Bewohner nur in Form von Soldaten, Flugzeugen und Bomben.
Guapi liegt im Epizentrum dieser Gewalt, der Ort selbst ist stark militarisiert, während in den umliegenden Wäldern die FARC-Kämpfer stationiert sind. Seit Jahrzehnten fliehen die Menschen aus dem Umland in die Kleinstadt, die wenigsten konnten jemals auf ihr Land zurückkehren. Die NGO Cococauca schätzt, dass über die Hälfte der Bevölkerung einen Fluchthintergrund hat, laut offiziellen Zahlen der Regierung sind für 87% der Bewohner der Region die wichtigsten Grundbedürfnisse nicht erfüllt – einer der höchsten Werte im ganzen Land. Guapi ist nicht gewappnet für den stetigen Flüchtlingsstrom, der Staat leistet so gut wie keine Hilfe. Die Forderungen der Menschenrechtsorganisationen nach Reparationen und Garantien bleiben in so gut wie allen Fällen unerfüllt. Die Menschen, die ihre Häuser, ihre Felder und ihre Arbeit hinter sich lassen mussten, fangen bei null an, wohnen in selbst gezimmerten Holzverschlägen, versuchen sich jeden Tag durchzuschlagen. Rebusco, von der Hand in den Mund, sagen sie. Die wenigsten glauben noch an eine Rückkehr, die Gewalt ist zu groß, ihre Häuser eingefallen, ihre Felder verwildert. Sie haben nichts mehr.
Sie sagen: „los grupos“, sprechen weder FARC noch Paramilitärs aus, und wenn, flüstern sie die Namen, so leise, dass man es fast nicht verstehen kann. Sie schauen nervös zur Tür, drehen sich um, wippen mit den Füßen. Die Angst ist immer bei ihnen, die Angst hat sie nie verlassen.
Sie erzählen: „dort hatten wir alles“ und „es war immer ruhig, bis“ und „der Strand war wunderschön“ und „jeder hatte sein eigenes Haus“. Oder sie erzählen: „mein Mann starb im Kreuzfeuer“ und „sie kamen zu dritt und haben mich vergewaltigt“ und „wir konnten nichts essen während der tagelangen Gefechte“ und „hier steckt noch die Kugel in meiner Hand“. Doch vor allem sagen sie: „weitermachen“. Und: „jetzt sind wir hier“. Und sie lachen, sie tanzen, sie reißen Witze. Sie suchen sich schlechtbezahlte Jobs, eröffnen kleine Läden, züchten Hühner. Einigen gelingt das besser und sie schaffen es, sich ein neues Leben aufzubauen, andere leben seit über 10 Jahren in extremer Armut, sterben aufgrund fehlender medizinischer Versorgung an leichten Krankheiten, haben oft tagelang kaum etwas zu essen. Mauricio Redondo vom staatlichen Kontrollorgan Defensoría del Pueblo ist in Guapi, um die Situation einzuschätzen. Er erklärt konsterniert: „Die Lage der Flüchtlinge in Guapi ist prekär und unwürdig, es gibt keinerlei Infrastruktur, so gut wie gar keine Hilfen. Der Staat muss jetzt sehr schnell handeln, die Menschen müssen zurückkehren, aber nur mit den nötigen Garantien und nicht, weil sie hier verhungern. Sie müssen würdevoll und freiwillig zurückkehren können“. Er ist nachdenklich, weiß, wie schwer es ist, diese Forderungen gegenüber dem Staat durchzusetzen. „Ein wirklich erfolgreicher Rückführungsprozess dauert meistens mindestens über ein Jahr und viele Gemeinden warten für immer“.
Als einzige Flüchtlingsunterkunft in Guapi dienen zwei Konzertsäle der früheren Casa de Cultura. Manchmal kommen kleine Essenslieferungen von Hilfsorganisationen, doch bei einem Ansturm wie im Mai, sind die Kapazitäten schnell erschöpft: „Es fehlte an allem, es gab keine Matratzen, kein Essen, doch vor allem fehlte das Wichtigste: Wasser. 500 Menschen und kein Wasser, stell dir das mal vor. Es war unmöglich zu bleiben. Die meisten sind direkt wieder gegangen. Zu Freunden, zu Familienangehörigen oder haben sich ein Zimmer von ersparten Geld gemietet“, erzählt Alvaro. So wie er und seine Familie. Sie sind bei seinem Cousin eingezogen, in den kleinen Bretterverschlag am Ortsrand. Zehn Menschen teilen sich dort vier Zimmer. „Es ist ja nicht für lange“, sagt Alvaro. Seine Stimme verrät nicht, ob er sich selbst Glauben schenkt. In der Casa de Cultura leben nur noch vier Familien, jene, die sonst nirgends unterkommen konnten und keinerlei Rücklagen haben. Zwei Familien sind hier seit fast einem Jahr und warten immer noch auf die Antwort ihres Umsiedlungsantrages. Sie wissen, dass der Staat kaum einen dieser Anträge bewilligt und es mehrere Jahre dauern kann. Dennoch ist es ihre einzige Perspektive, zurück können sie nicht. Tagsüber kommen die anderen Flüchtlinge, um sich mit ihnen die Essensrationen zu teilen. Es gibt das selbe wie jeden Tag: Reis und Linsen. Die Männer spielen Domino, die Frauen machen den Mädchen die Haare. Viel ist nicht zu tun, sie haben keine Arbeit, schlagen die Zeit tot, warten. Tagsüber steigt die Hitze, die Kinder legen sich auf die dünnen, schwarzen Matratzen, pressen ihre Augen zusammen und tun so, als würden sie schlafen. Im gleichen Raum halten die Erwachsenen das nächste Treffen ab, heute mit der Defensoría del Pueblo. Jeden Tag neue Treffen, jeden Tag wieder Erwartungen, und dann: wieder warten.
Alvaro ist heute noch kämpferischer, seine Stimme durchdringt den Raum. Grundversorgung für ein Jahr, Arbeitsmaterialien, Wassertank, Gesundheitszentrum, öffentlicher Transport, Kommunikationsmittel. 21 Punkte zählt er auf. „Versteht ihr das?“, fragt er fordernd.
Die beiden Herren aus Bogotá sind die einzigen Weißen bei der Versammlung. Sie erklären den Leuten all ihre Rechte: Gesundheit, Sicherheit, Bildung, Würde. Aber dann erklären sie, dass der Staat diese Rechte nicht erfüllen wird, sie sprechen von realistischen Forderungen, von Minimalkonditionen. Sie sind selbst Teil vom Staat, eine von der Verfassung vorgeschriebene Organisation, die die Regierung kontrollieren soll. Auf dem Papier ist vieles gut in Kolumbien, doch die Realität sieht anders aus. „Eigentlich gibt es diese Rechte hier gar nicht“, sagt Alvaro, „sie schreiben sie auf, sie reden darüber, aber jeder weiß, dass es die Regierung nicht interessiert“.
Alvaro sieht die einzige Chance darin, sich zu organisieren und die Stimme zu erheben. Am Sontag findet in Guapi einer, der seit 2012 von sozialen Bewegungen und politischen Parteien regelmässig organisierten, Friedensmärsche statt. Alvaro war tagelang unterwegs um die Gemeinden aus dem gesamten Umland zu mobilisieren. Es geht darum der Forderung nach einem beidseitigen Waffenstillstand mehr Nachdruck zu verleihen.
„Alle sehen wir, wohin uns dieser absurde Krieg führt, jeden Tag gibt es neue Vertriebene, die vor den ständigen Gefechten und den Bomben fliehen. Wie können wir an die Friedensverhandlungen glauben, wenn im gleichen Moment der Krieg immer weiter vorangetrieben wird?“, fragt Alvaro.
Die Menschen wurden mit Bussen und Schiffen angekarrt, die Organisatoren zahlen ihnen die Reise und Verpflegung. Jene, die keine Unterkunft haben, schlafen in der Casa de Cultura. Die wenigen Klos sind nach ein paar Stunden schon komplett verdreckt. Die beiden Räume der Casa de Cultura sind jetzt schon maßlos überfüllt, es gibt nicht genügend Matratzen, kaum Platz zum Laufen. Man will sich die Situation im Mai bei dem wesentlich größeren Ansturm nicht ausmalen.
Am nächsten Morgen um 6.30 Uhr klingelt Alvaros Handy das erste Mal. Eine neue Gruppe ist mit Booten über den Fluss angekommen. Alvaro rennt umher, schüttelt Hände, hat für jeden sein warmes Lächeln, wirkt immer entspannt. Er fühlt sich wohl in seiner neuen Rolle, mit seiner neuen Verantwortung. Der Marsch soll um 9 Uhr beginnen, doch es ist niemand da. Nur Alvaro und die anderen Organisatoren warten und schauen auf ihre Handys. Die hoffnungsvolle soziale Bewegung verspätet sich. Irgendwann um 10.30 Uhr haben sich genügend Menschen gesammelt. Wie von Alvaro angekündigt sind es mehrere tausend, die durch die Straßen ziehen. Die Organisatoren verteilen T Shirts, kurz entsteht eine kleine Unruhe unter den Flüchtlingen, denn es sind nicht genügend für jeden da. Es ist wie mit dem Essen, nie ist genügend für alle da, sagen sie. Auf den T-Shirts steht: beidseitiger Waffenstillstand. Auf den Bannern steht: keine Luftangriffe, kein unnötiges Blutvergießen. Es sind direkte Forderungen an Präsident Santos, der sich trotz der fortgeschrittenen Verhandlungen immer noch weigert, einem beidseitigem Waffenstillstand zuzustimmen. Vorne wird mächtig Stimmung gemacht: Paz, Paz, Paz, rufen sie durch Lautsprecher, aber die Motivation der Demonstranten hält sich in Grenzen. Es ist heiß, die Leute schwitzen unter der brennenden Sonne. Der Eindruck von Zusammenhalt, von einer einheitlichen sozialen Bewegung, will nicht entstehen. Viele Organisationen sind zuhause geblieben, wollen nicht Teil der Wahlkampfkampagne sein, wie sie sagen. Hier spiegelt sich eines der Hauptprobleme der Region, vielleicht des ganzen Landes: die Menschenrechtsorganisationen, die sozialen Verbände, die Gemeindeführer, die Afro-Kolumbianer, die Indigenen, alle sind sie unter einander zerstritten, trauen sich nicht, werfen sich gegenseitig Korruption und Egoismus vor. Eine einheitliche Bewegung existiert nicht, jeder kämpft für sich selbst. Alvaro ist trotzdem zufrieden, vielleicht ist er noch nicht lange genug hier in der Stadt, um den Anderen zu misstrauen. „Heute haben wir ein bedeutendes Zeichen gesetzt“, sagt er, „es muss endlich Schluss sein mit dem sinnlosen Töten. Die Regierung muss jetzt die Waffen niederlegen“. Nach dem Marsch ist noch ein Treffen der Flüchtlinge von Alto-Guapi. Sie versuchen ihre Forderungen neu zu präzisieren, morgen ist die wichtige Besprechung mit der Bürgermeisterin. Das nächste Treffen. „Wir wissen nicht, wann wir zurückkönnen“, sagt Alvaro, „hoffentlich nächsten Monat. Es geht voran, heute war ein großer Tag für den Frieden und morgen ist das nächste Treffen. Es geht voran“.
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