Jeden 9. April gehen in ganz Kolumbien Menschen auf die Straße, um den über 250 000 Toten des Bürgerkrieges zu gedenken. In den letzten Jahren haben sich die Kundgebungen in riesige Friedensmärsche verwandelt: 2015 demonstrierten laut Medienberichten mehrere hunderttausende Kolumbianer für ein Ende der Gewalt. Aus dem Tag des Gedenkens war endgültig ein Tag der Zukunft geworden. Die seit 2012 andauernden Friedensverhandlungen schienen auf der Zielgeraden, 2015 sollte das Jahr des Friedens sein. Stattdessen gingen die Menschen auch dieses Jahr wieder auf die Straße, die Forderungen nach beidseitigem Waffenstillstand und einem Frieden mit sozialer Gerechtigkeit stehen immer noch auf den Transparenten. Doch dieses Jahr überwiegt nicht die Euphorie, sondern die Angst vor der immer bedrohlicher werdenden ultra-rechten paramilitärischen Gewalt.
Spätestens beim historischen Handschlag zwischen Präsident Santos und FARC-Führer Timochenko im letzten September hielt fast jeder den Friedensprozess für unumkehrbar. In 6 Monaten solle es Frieden geben, versprach man, und setzte als Deadline den 23. März fest. Doch statt der feierlichen Unterzeichnung des Friedensvertrages, trat der Verhandlungsführer der Regierung, Humberto de la Calle, vor die Presse und sprach von noch bestehenden „entscheidenden Meinungsverschiedenheiten in grundlegenden Punkten“. Die FARC-Delegation setze schon einige Wochen vorher einen neuen Zeitraum und sprechen nun von den „verbleibenden wenigen Monaten“, die Kolumbien vom finalen Abkommen trennen würden.
Im letzten noch zu besprechenden Punkt geht es vor allem um den Ort und Zeitpunkt der Demobilisierung der ca. 7000 bewaffneten Guerillakämpfer. Während Präsident Santos öffentlich auf ein festes Datum der Entwaffnung pocht, fordert die FARC-Delegation seit Monaten Sicherheitsgarantien vor ultra-rechten paramilitärischen Gruppierungen. Am 6. April betonten sie in einem Kommuniqué, dass es keinen Frieden mit dem Fortbestehen des Paramilitarismus geben könne. Die Angst der FARC-Kämpfer ist nicht grundlos: nach den Friedensverhandlungen Anfang der 90er Jahre wurde der politische Arm der Guerilla, die Unión Patriótica, nach großen Wahlerfolgen gewaltsam niedergeschlagen. Paramilitärs ermordeten über 4000 Mitglieder, darunter zwei Präsidentschaftskandidaten. Die übrig gebliebenen nahmen den bewaffneten Kampf wieder auf, vor allem als erfolgsversprechendste Möglichkeit zu überleben.
Das selbe Muster macht auch Jahrzehnte später noch jegliche Politik mit sozialen und emanzipatorischen Anspruch in Kolumbien lebensbedrohlich: Aktivisten, Politiker und Journalisten werden in Drohbriefen als kommunistische Ratten bezeichnet, zu militärischen Zielen ausgerufen und systematisch ermordet. Den ideologischen Unterbau dafür liefert oft Ex-Präsident Álvaro Uribe, der gerne im Kongress Politiker oder Anführer sozialer Bewegungen als der FARC zugehörig bezeichnet, wohl wissend, dass er den Paramilitärs damit die nötige Rechtfertigung für ihre Morde gibt.
Auf der Zielgeraden der Friedensverhandlungen spitzt sich die Lage derart zu, dass die eher vorsichtige kolumbianische Wochenzeitung Semana von der „Rückkehr des paramilitärischen Phänomens“ spricht. Laut aktuellen Zahlen des CERAC (Centro De Recursos Para El Análisis De Conflictos) stiegen die politisch motivierten Morde 2015 um 35%. 2016 setze sich dieser Trend weiter fort. Ex-Senatorin Piedad Córdoba ist als Führerin der Organisation Marcha Patriótica seit Jahren Hauptorganisatorin von Friedensmärschen im ganzen Land. Letzte Woche entging sie nur knapp einem Attentat. „Wir zählen jetzt 115 Ermordete in den letzten Jahren, wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen, oder an wen wir uns wenden können“, äußerte sie sich gegenüber der kolumbianischen Presse. Auch Politiker der seit 2013 wieder als Partei aktiven Unión Patriótica werden vermehrt zur Zielscheibe. Laut ihren eigenen Angaben wurden alleine in diesem Jahr mindestens dreißig Mitglieder ermordet.
Offiziell gibt es den Paramilitarismus in Kolumbien nicht mehr. 2006 wurden die Einheiten öffentlich entwaffnet. In der Realität gingen sie allerdings nahtlos in neue Gruppen über, die weiterhin ganze Regionen kontrollieren. Die Demobilisierung wird häufig kritisiert, da ausgerechnet die damalige Regierung von Álvaro Uribe engste Verbindungen zu Paramilitärs unterhielt. Im letzten Jahrzehnt wurden wegen sogenannter Parapolítica über 60 Kongressabgeordnete verurteilt und gegen den Ex-Präsidenten liegen aktuell 27 Anzeigen vor. Sein Bruder Santiago Uribe so wie sein Cousin, der ehemalige Parlamentspräsident Mario Uribe, sitzen bereits im Gefängnis.
Die Regierung verbannte nach der Demobilisierung den Terminus »Paramilitarismus« und spricht seitdem von »kriminellen Banden«. Gerade in den vergangenen Monaten treten diese wieder verstärkt in Erscheinung.
Eine der größten aktiven paramilitärischen Gruppierungen sind die „Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens“ (AGC) unter der Führung von Dairo Antonio Úsaga, der zuvor für die demobilisierten AUC aktiv war. Die Gruppe umfasst geschätzte 2 000 Kämpfer, kontrolliert große Teile des landesweiten Kokainhandels und ist für ihre grausame Praktiken zur territorialen Kontrolle bekannt. 2014 machte Human Rights Watch auf die in der Hafenstadt Buenaventura existierenden „Zerstückelungshäuser“ (Casas de Pique) aufmerksam, in denen die Paramilitärs systematisch Menschen foltern und bei lebendigem Leibe in Stücke schneiden.
Zwischen 31. März und 1. April betrat die ansonsten meistens unter dem Namen „Urabeños“ bekannte Gruppe erneut die politische Bühne und legte in 36 Landkreisen das öffentliche Leben lahm. In einem Drohschreiben verordnete man den Bewohnern einen „Streik“: niemand durfte während 24 Stunden sein Haus verlassen, Schulen, Läden und öffentliche Einrichtungen blieben geschlossen. Brennende Autos und Straßensperren prägten das Bild in den Regionen, mindestens 5 Mitglieder der Sicherheitskräfte und ein Zivilist wurden getötet.
Die paramilitärische Machtdemonstration fand einen Tag nach der Aufnahme der Friedensgespräche mit der zweiten kolumbianischen Guerillagruppe, der ELN, statt. In ihrem Schreiben definieren sich die AGC ganz deutlich als politische Gruppe und betonen, dass sie prinzipiell einen Frieden unterstützen. Die größte kolumbianische paramilitärische Gruppierung versucht auf der Zielgeraden von den Friedensverhandlungen zu profitieren. Jahrelang gab es einen faktischen Nicht-Angriffspakt zwischen FARC und den AGC. Einige Berichte besagen, dass beide Gruppierungen teilweise gemeinsame Sache im Kokaingeschäft gemacht haben sollen. Seit Januar ist dieser Pakt aber endgültig gebrochen, immer wieder tauchen Nachrichten territorialer Kämpfe auf. Erst am Montag kam es in El Bagre zu heftigen Gefechte mit zwei Toten.
„Inmitten bewaffneter paramilitärischer Streiks und dem Angriff auf Menschenrechts- und soziale Organisationen ist es wichtig am 9. April wieder auf die Straße zu gehen um zu zeigen, dass wir einer politischen Lösung des Krieges den Rücken stärken, dass wir uns nicht von der Angst paralysieren lassen“, forderte die Basisorganisation Congreso de los Pueblos die Bürger Kolumbiens auf. Doch die Antwort der Zivilgesellschaft blieb aus. Im Vergleich zum letzten Jahr gingen wesentlich weniger Menschen auf die Straße.
Die Skepsis gegenüber dem Friedensprozess scheint mit jedem Tag zu wachsen und der Rückhalt von Präsident Santos, der den Marsch in Bogotá anführte, wird immer kleiner. Seine Popularitätswerte sind auf einem Rekordtief angelangt, laut einer von mehreren Medien gemeinsam durchgeführten Studie haben 73% der Menschen ein negatives Bild des Präsidenten und 66% glauben nicht mehr an ein positives Ende der Verhandlungen.
Am 17. März demonstrierten beim von Bauernverbänden angeführten landesweiten Großstreik alleine in Bogotá über 15 000 Menschen gegen die sozialfeindliche neoliberale Politik der Santos-Administration. Viele wollen den Frieden, nehmen die Verhandlungen aber als Farce war und fühlen sich von ihnen ausgeschlossen. Zwei Wochen später fand eine vom Ex-Präsidenten Álvaro Uribe angeführte landesweite Demonstration gegen den Friedensprozess statt – mit noch größerer Beteiligung. Alleine in Medellin berichtet die kolumbianische Tageszeitung El Espectador von 80.000 Teilnehmern.
Der Frieden ist trotzdem so greifbar wie noch nie seit Kriegsbeginn. Iván Cepeda, Senator der linken Partei Polo, bewertete auf Twitter die neue paramilitärische Gewalt und Uribes Marsch als Verzweiflungstat einer Rechten, die den Friedensprozess nicht mehr stoppen könne. Doch auf der Zielgeraden der Verhandlungen wird deutlich, dass der Friedensprozess nicht das Heilmittel aller Probleme sein kann. Die Rechte um Álvaro Uribe und die bewaffneten Paramilitärs haben immer noch immensen politischen Einfluss und werden einen möglichen Frieden nur noch heftiger bekämpfen, desto ausgeschlossener sie sich vom Prozess fühlen, die Ursachen des Konfliktes liegen immer noch in der eklatanten Ungleichheit im Land und lassen sich nicht mit einer extravistischen Politik beheben.
Der letztes Jahr noch überquellende Plaza de Bolívar vor dem Regierungspalast in Bogotá ist halb leer, die Menschen Kolumbiens einen sich nicht mehr für die Idee eines baldigen Friedens hinter ihrem Präsidenten. Statt Euphorie mobilisiert 2016 Frustration. „Es ist ein Tag zum vergessen” ,sagt ein resignierter Demonstrationsteilnehmer und rollt sein Plakat zusammen, „hoffentlich wird es nicht ein Jahr zum vergessen”.
Foto: Ariel Arango
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